Montag, 31. Oktober 2011

Haltestelle Klinikum

 
Die OP ist erfolgreich verlaufen, mein Rücken ist nun stabil. In der letzten Woche vor der Entlassung kann ich es nicht mehr aushalten. Ich will raus aus dieser kleinen Welt. Ich mache kleine Spaziergänge ausserhalb des Geländes der Uniklinik, was streng verboten ist. Ich stecke meine Hand mit dem Zugang tief in die Hosentasche um nicht aufzufallen. Ein Schritt hinter die Mauer und die Luft ist anders. Ich meine das zu fühlen, sie ist kälter und klarer. Die Zeit läuft wie auf Knopfdruck schneller. Alle laufen mit einem mir unbekannten Ziel vor Augen, alle haben Taschen mit, alle beeilen sich irgendwohin. Ich laufe die Strasse hoch, versuche den Schritt mitzuhalten. Geht nicht. Ich bin ausser Atem. Muss mich hinsetzen. An der Haltestelle Klinikum setze ich mich auf die Bank. Ich frage mich, ob ich in diese Welt zurück will.
Immer wieder vergesse ich die Prognose. Ich sage mir, dass ich gesund bin. Es gibt keinen anderen Weg. Ich glaube fest an ein Wunder. Ich bin ein sehr guter Kandidat für ein Wunder,wie ich finde! Ich habe schon so vieles durchgestanden, es kann doch jetzt nicht vorbei sein. Ich fange doch gerade erst an, wirklich zu leben, also kann es einfach nicht Wahr sein. Eine Lüge, eine große Prüfung, egal was, aber nicht ein Aus, nicht der T...d. Er wird umgangen, in viele Tücher gehüllt, nicht gedacht, bereitwillig und großzügig, unbeabsichtigt vergessen.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Noch einen Sommer

 
15.10.2011 Hyussenstift Essen, Palliativstation
20 Monate. Wow, ich dachte wirklich, es wären höchstens sechs. Ich habe gestern in einem Bericht über die Studie, in der ich teilnehme, gelesen, durchschnittlich können es doch 20 werden. Noch einen Sommer! Wie sehr ich mir noch einen Sommer wünsche! Dieser war ein Alptraum. War doch keiner, ich wache und wache nicht auf. An vielen Morgenden denke ich: du bist immer noch hier, im Krankenhaus, die Schwester ist schon wieder da, um den Blutdruck zu messen, sich nach den Schmerzen zu erkundigen. Sie sind auch immer noch da, dir Schmerzen. Nichts hat sich geändert, der Alptraum geht weiter, es ist keiner, es ist Leben.

Wie soll man damit zurechtkommen, wie soll man das akzeptieren, mit 25? An solchen Morgenden und an vielen Mittagen und Abenden und Minuten, die ich erlebe, denke ich daran, dass das hier alles doch nicht mit mir passieren kann. Und doch kommt die Schwester und die Schmerzen sind nicht zu verwechseln, und die Ärzte sprechen immer deutlichere Sprache: „Wir wollen Ihnen keine falschen Hoffnungen machen“, „Wir sprechen hier nicht über Jahre oder Jahrzehnte.“

Das sind die Worte meines behandelnden Dermatologen. Ich soll bei einem Ärztekonzil dabei sein. Ich muss nicht, aber ich darf. Am Tag davor bin ich sehr aufgeregt. Ich stelle mir eine runde Tafel vor, in einem großen Raum, viele Ärzte in weissen Kitteln sitzen am Tisch. Sie reden über mich, tauschen sich aus, wie man mir helfen kann. Sie suchen nach einer Lösung, wissen sicherlich was sie zu tun haben, präsentieren mir das. Ich höre aufmerksam zu, bekomme Antworten auf meine Fragen.

15.7.2011 Uniklinikum Essen, Tumorzentrum
Um elf soll es los gehen. Heute trinke ich keinen Kaffee. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch gleicht dem vor einer schweren,wichtigen Prüfung. Ich ziehe mich fast feierlich an. Meine beste Jeanshose, ein hübsches Shirt, ein Jacket. Für ein Krankenhausoutfit ganz schön gut, wie ich finde. Ich schminke mich ein bisschen, aus dem Spiegel schaut mich ein schneeweisses Gesicht an. Bei der OP soll ich viel Blut verloren haben. Ich lächle mich an, sage dem Spiegelbild: „Du wirst wieder gesund, du bist gesund“. Ich glaube daran, ganz fest.

Kurz nach elf kommt mein behandelnder Arzt um mich abzuholen. Andy, mein bester Freund ist auch da, er hat sich für heute frei genommen und wird mich begleiten. Wir sind in einem winzigen Raum, einem Behandlungsraum des Hauttumorzentrums. Eine Liegecouch, zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Andy und ich setzen uns auf die Stühle. Mein behandelnder Arzt von der Station setzt sich hinter uns auf die Couch. Ein Arzt den ich nicht kenne kommt rein und gibt mir seine feuchte Hand. Doktor S. Er bleibt in der Tür stehen. Kein runder Tisch, keine offene Atmosphäre, Doktor. S. beginnt sofort zu sprechen, er hat wenig Zeit. Er sagt, dass er „offen reden“ für das Beste hält. Ich fühle mein Herz komische Sprünge machen. Ich atme durch, das „Prüfungsgefühl“ macht sich im Blut breit. Ich höre ihn meine Diagnosen vorlesen. Eine nach der anderen. Alle Befunde, alle Metastasen. Ich höre, dass die Erkrankung schon sehr weit fortgeschritten ist. Er sagt etwas von der Bestrahlung und Chemo, die man noch versuchen kann, wiederholt aber immer wieder, dass das den Krebs vielleicht etwas verlangsamen aber nicht auslöschen kann. Er will mir keine falschen Hoffnungen machen. Mein Atem beginnt beim Ausatmen zu zittern. Doktor S. reicht mir einen Plastikbecher mit Leitungswasser. Ich trinke mit großen Schlucken um mich zu beruhigen. Sagt er mir gerade, dass ich nie wieder gesund werde? Was sagt er da und was bedeutet das? Ich stelle eine Frage, mit großen Pausen zwischen den Wörtern. Heisst das, ich werde sterben? Der Arzt sagt etwas, was ich nicht verstehe. Wieder und wieder. Die weisse Tapete bekommt schwarze Flecken. Ich schnappe nach Luft, aber sie ist wie ohne Sauerstoff, wie eine Leere, die ich mit Kraft in meine Lunge ziehe. „Wir sprechen nicht über Jahre oder Jahrzehnte“.......Ich höre den Plastikbecher knistern, das Wasser, das über meine Hand läuft. Ich kann diesen Raum nicht mehr ertragen, die Menschen darin, die Worte die in mein Gehirn wie schwere Bomben einschlagen. Ich höre mich schreien, aber ich erkenne meine Stimme nicht. Ich renne, schlage hinter mir die Schiebetüren zu. Will lauter schreien, damit mein zugeschnürter Hals sich löst, aber es gelingt mir nicht. Es kommen nur tierische, gepresste Laute heraus. Jemand rennt hinter mit her, im Treppenhaus sinke ich zu Boden und klammere mich an das Geländer. Ich schlage mit dem Kopf gegen das kalte Metall. „Nein, nein, nein, nein...“ Ich schreie und weine. Zum ersten Mal.

Was ist denn schlimm daran, Hoffnung zu haben? Wie soll ich ohne sie jeden Morgen aufstehen? Wer kann wissen, was mit mir sein wird, warum sind wir uns so sicher, wenn wir aus der Haustür hinaustreten, dass wir sie abends wieder aufschliessen werden? Die Menschen, die an Autounfällen sterben, haben auch von langem und glücklichen Leben geträumt oder vielleicht sich nie die Frage gestellt, es könnte morgen alles vorüber sein. Ich auch nicht.

26.6.2011 Uniklinikum Essen, Aufnahme ins Krankenhaus, die ersten Tage
Ganz am Anfang habe ich mich über die Diagnose sogar gefreut! Endlich!!! Endlich nicht als Simulantin abgewunken zu werden! Es gab einen Grund, er stand fest, er war schrecklich, ich verstand noch die Bedeutung nicht.
„Fraktur eines Wirbels, poröser Wirbelkörper, die Fraktur (der Bruch) kommt durch einen Tumor, vielleicht sind das die Knochenmetastasen“- höre ich eine Stimme. Ich hatte ja diesen Leberfleck, der als schwarzer Hautkrebs diagnostiziert wurde, denke ich... Das war vor zwei Jahren. Ich dachte längst, alles wäre in Ordnung. Ich war fleissig bei der Nachsorge, sie haben meine Haut angesehen und mir Blut abgenommen. Es konnte doch nicht davon kommen. Oder etwa doch?

Ich hatte plötzlich einen Grund, so gelitten zu haben. Ich hatte einen Grund, vor Schmerzen zu weinen und Ibu wie Smarties gegessen zu haben, ich hatte einen Grund, mich beim Querflöte spielen alle zehn Minuten hinlegen zu wollen, ich hatte einen Grund, bei meiner Hausärztin zu zittern und zu weinen, damit sie mir glaubt und mich untersucht, aber sie hatte nur das Eine im Kopf: ich bin jung und kann solche Rückenschmerzen nicht haben. Das an der wichtigen Stelle total verwischte Röntgenbild hat ja schliesslich auch nichts gezeigt. Ich soll mich nicht so anstellen. Zum Einrenken hat sie mich geschickt und mir eine Spritze gegeben.

Der Grund hieß Knochenmetastasen. Knochentumorschmerzen sind die stärksten Schmerzen, die es laut internationaler Einstufung gibt. Vier Tumoren gab es in der Wirbelsäule. Der sechste Brustwirbel (BWK 6), der so weh getan hat, musste sofort operiert werden, es bestand eine akute Gefahr des Wirbelsäulenbruches. Die ersten Anzeichen eines Querschnittes waren schon da.
Und doch habe ich mich gefreut. Das Kind hatte endlich einen Namen: Es hieß Krebs.

Die Operation stand bevor. Der BWK 6 musste dringend stabilisiert werden. Die Tage vor der OP darf ich nicht aufstehen, nur auf die Toilette. Ich frage mich ob das ein schlechter Witz ist, vor 3 Tagen habe ich noch Vollzeit studiert. Auf meine Fragen antworten die Schwestern mit einer Gegenfrage, ob ich für mein Leben lang einen Querschnitt will. Ich soll einfach im Bett bleiben und keine Fragen stellen. Ich liege, geniesse es, zur Ruhe gezwungen zu werden und frage mich was wäre, wenn der Zufall mich nicht in die Uniklinik geführt hätte.

6.7.2011 Uniklinikum Essen, Operatives Zentrum II
Der Neurologe führt einige Tests mit mir durch. Er ist wahnsinnig nett, aber schaut mir nicht in die Augen. Das beunruhigt mich. Am Ende muss ich unterschreiben, dass ich mit der OP einverstanden bin, einverstanden, vielleicht inkontinent zu werden, vielleicht nie wieder laufen zu können, vielleicht gar nichts mehr unterhalb der Brust bis zu den Füßen zu spüren. Ich unterschreibe mit einem Kloß im Hals und frage mich schon wieder, ob das wirklich mit mir passiert. Morgen geht es los.

7.7.2011 Uniklinikum Essen, die OP
Am nächsten Morgen, gegen acht, bringt die Schwester die OP-Kleidung rein. Ein langes Hemd, eine Netzunterhose, eine Kopfbedeckung und die Thrombosestrümpfe. Die Schwester fragt, ob sie mir mit dem Anziehen helfen soll. Ich will es alleine tun. Ich ziehe mich langsam um. Ich denke daran, dass alles anders sein kann, wenn ich wieder aufwache. Heute noch. Ich sage meinem Alarm schlagenden Herzen, dass alles gut wird. Wiederhole das wie ein Gebet. Ich halte die Strümpfe in der Hand. Das Bücken tut im Rücken weh, die Strümpfe sind sehr eng und umschliessen meine Beine mit einer festen Hand. Ich spüre hin, will mir einprägen, wie es sich anfühlt. Streichle meine Beine. Das Telefon klingelt schon wieder, schon den ganzen Morgen. Da ruft jemand an, der mir alles Gute wünschen will. Ich will niemanden hören. Ich will in mich hinein lauschen, mich fragen, ob alles gut gehen wird. Mein Herz schweigt.
Ich wache auf, es ist dunkel. Jemand sitzt an meinem Bett und liest. Habe wahnsinnigen Durst und Schmerzen. Ich kann nur stöhnen, versuche meinen Kopf zu bewegen, aber es gelingt nicht. Ein Gesicht. Andy. Er errät was ich will, gibt mir aus der Schnabeltasse zu trinken. Das Wasser schmeckt so gut wie noch nie. Ich will nicht aufhören zu trinken, aber die Ärzte sagen, ich darf nicht so viel. Ich dämmere wieder ein, wache auf, trinke, wenn jemand da ist, schlafe wieder ein. Nach zwei Tagen verstand ich, dass die OP vorbei ist, sie ist wohl gut verlaufen. Ich kann mich noch nicht bewegen, nicht mal den Kopf. Alles tut weh, aber das ist wohl normal. Nun heisst es abwarten.